Die Revolution der Piraten

Mit den oben stehenden Worten beginnt ein Artikel der am Sonntag in der FAZ zu lesen war (und heute im Internet).

Vielleicht ist das einer der besten Artikel, die bisher zum Thema Piratenpartei geschrieben wurden.
Warum? Weil er gut recherchiert, objektiv und kritisch ist und es wirklich schafft den Kern der “Sache” heraus zu stellen – die Bedeutung und Dynamik des Themas “Piraten”. Die Piratenpartei wird darin als Bewegung und Partei gleichermaßen betrachtet und analysiert.  Frank Schirrmacher schafft es aus der Perspektive der Gesellschaft zu erklären, was die sogenannten “Nerds” für die Gesellschaft tun können und getan haben.

Hier ein paar Auszüge:

Kurz: was fehlt, sind die Nerds.
Und jetzt, da sich aus ihrem innersten Kern eine neue und wahrscheinlich bald auch immer un-nerdigere, weil moderne politische Bewegung formiert, kann man nicht anders, als voller Respekt und ohne Ironie ihren Siegeszug zu rühmen. Sie haben die Gesellschaft längst geentert, noch ehe Teile von ihnen sich als “Piraten” zusammentaten.

Ihrem Wesen nach sind Nerds individualistisch. Aber sie sind Individualisten, die dank der digitalen Technologie die größte Vernetzungsstufe der Menschheitsgeschichte möglich gemacht haben: Vernetzung einzelner Subjekte, die ihren Charakter und ihre Individualität bewahren können, nicht nach ihrem Äußeren beurteilt werden, nicht nach ihrem Geschlecht, nicht nach ihrem Diplomatenkoffer oder ihrer Jute-Tasche. Die Organisation ist so geschlechtsneutral, wie es das Internet ist. Das erklärt, wieso sie politisch geweckt wurden, als die Grundregeln bedroht zu sein schienen. Und das macht sie wichtig und notwendig.

Der Nerd ist ein Wunder der Technik. Aber jetzt wird er zu einem Wunder unserer Gesellschaft. Man würde ihn in unserer coolen Glamourwelt auf jeder Party übersehen, er würde kaum reden und keinen Wirbel machen. Ein großer Fehler, wie wir womöglich bereits nach der Bundestagswahl bemerken werden.

Die Revolution der Piraten

Sie haben unsere Welt programmiert: Nerds blieben bislang am liebsten unter sich und waren beinahe unsichtbar. Jetzt betreten sie die Welt der Politik. Was hat das zu bedeuten? Von Frank Schirrmacher

19. September 2009 Die Journalistin Dagmar von Taube bringt demnächst einen offenbar sehr interessanten Fotoband über die Berliner Gesellschaft heraus. Bei dem wenigen, das man gesehen hat, handelt es sich um ein Panorama von Schönheit und Coolness und Macht, von Clubs und Bars, von Partys und Gastwirten – ganz Berlin, so scheint es, ist ein einziger Grill, auf dem Königskinder von heute in glühender Liebe zu Kunst und Smalltalk vor sich hin brutzeln. Aber ehe daraus eine neue Ära wird, hier der Hinweis: Etwas fehlt.

Es fehlt nicht nur hier, es fehlt überall, wo solche balzacschen Gemälde entworfen werden. Es fehlt, wie ich feststelle, auch in allen meinen Artikeln und in fast allen Artikeln meiner Kollegen der letzten Jahre. Es fehlt nicht nur in Berlin, sondern in München, Frankfurt und Münster. Wir haben es entweder alle übersehen oder nicht ernst genommen, auch deshalb, weil Coolheitsgesichtspunkte einer Pop-Ökonomie dagegen sprachen. Fragen Sie jeden Feuilletonredakteur: Was ist cooler? Ein wabernder, wilder Text des Kult-Denkers und Model-Ehemannes Slavoj Zizek, der uns züchtigt und uns unsere eigene Spießigkeit schmerzlich bewusst macht; oder sind es die Satzbefehle, die irgendein pizzaverschlingender Zwanzigjähriger in seinem mit “Star Wars”-Memorabilien vollgestopften Kinderzimmer jetzt gerade in seinen Computer tippt? Könnte man sich vorstellen, dass sie in einem von Dagmar von Taubes Get-togethers, während Nadja Auermann und Norbert Bisky noch feiern und flirten, über das Problem von Botnets oder die besten Verfahren der “würdevollen Herabstufung” reden, der Art und Weise, wie man Websites auf Handys darstellt?

Kurz: was fehlt, sind die Nerds.

Wunder der Technik

Und jetzt, da sich aus ihrem innersten Kern eine neue und wahrscheinlich bald auch immer un-nerdigere, weil moderne politische Bewegung formiert, kann man nicht anders, als voller Respekt und ohne Ironie ihren Siegeszug zu rühmen. Sie haben die Gesellschaft längst geentert, noch ehe Teile von ihnen sich als “Piraten” zusammentaten. Ob die “Piraten” Nerds sind oder nicht, ist eine der am heißesten diskutierten Fragen der politischen Blogs im Internet. Mit gutem Grund: der klassische Nerd trägt Kopfhörer, während er sich tief über seine Computertastatur beugt und gedankenlos mit der linken Hand nach einem kalten Stück Pizza greift. In “Jurassic Park” war der Typus, gespielt von Wayne Knight, zu besichtigen.

Nerds sind meist männliche junge Leute, die schon im Alter von vier Jahren damit beginnen, Spielzeugautos, Radios und Computer zu zerlegen und ganz anders wieder zusammenzubauen. Es gibt auch weibliche Nerds. Marissa Mayer von Google, die sich selbst einen Nerd nennt, ist die prominenteste Frau. Nerds verehren Daniel Düsentrieb, Jules Verne und später Neal Stephenson. Meist fallen sie schon frühzeitig durch einen unbändigen Basteltrieb auf. Früher konnte man sie in der Schule leicht erkennen: Sie hatten Diplomatenkoffer mit Nummernschloss, dessen Code sie täglich änderten, trugen Pferdeschwanz und schwarze T-Shirts mit “Ultima Online”-Logo. Der Typus ist seltener geworden, aber, wie ein Blick in das Publikum des letzten ZDF-Wahlforums zeigte, nicht ganz ausgestorben. Ausgehend vom neuen Google-Stil sind Nerds heute von der Pizza-und-Cola-Phase in das “Healthy food”-Biotop gewechselt und deshalb, anders als die großen Nerd-Pioniere wie Jaron Lanier und Nathan Myrvold, nicht mehr ohne weiteres zu erkennen.

Ein Foto des jungen Bill Gates. Aufgenommen 1978. Es ist das letzte Jahr der Ruhe. Noch ein Jahr, dann wird, wie Gates später erklären wird, der “digitale Tsunami” losbrechen. Dann wird klar werden, dass ein Massenmarkt für Computertechnologie entsteht. Das Foto zeigt einen etwas bleichen, jungen Mann mit ziemlich dicken Brillengläsern. Zwei Jahre zuvor hatte er bei einer Tupperware-Party seiner Mutter sein erstes Computerprogramm vorgeführt und war unter Flüchen und Wutanfällen gescheitert. “Er geht wohl nicht in Discos”, soll eine Freundin seiner Mutter bemerkt haben. Porträts des Tycoons als junger Mann: Es gibt noch viele davon, von Bill Joy, dem Gründer der Computerfirma “Sun”, von Danny Hillis, der den ersten Parallelrechner erdachte, von Charles Simonyi, der die wichtigsten Anwendungsprogramme erfand. Und dann sind da die zwei jungen Männer. Sie haben zwar keine dicken Brillen, aber während ihre Kommilitonen in Clubs abhängen, sitzen sie zu Hause und spielen mit Lego. Sie bauen einen bunten Turm aus Legosteinen, einen Quader, wie man ihn aus jedem Kinderzimmer kennt, nur dass hier im Inneren eine Zentraleinheit, eine Festplatte und ein Algorithmus versteckt sind. Vier Jahre später wird dieser Legoturm das Herz der wertvollsten Firma der Welt geworden sein, die in allen ihren Niederlassungen Legosteine verstreut und in ihrem Markenzeichen “Google” bis heute den Farben Legos huldigt.

Die Nerds, die die Sprites auf ihrem C-64-Homecomputer programmierten, während ihre Mitschüler in Clubs oder auf Demos waren, haben buchstäblich die Welt programmiert, in der wir uns heute bewegen. Wenn wir der modernen Welt ein Gesicht geben wollen, reden wir von Wall-Street-Haien und Managern, aber wir sollten anfangen, über Nerds zu reden. Dieser Text ist in Word geschrieben. Word stammt von Charles Simonyi. Bereits als Vierjähriger im kommunistischen Ungarn spielte er in der damals noch begehbaren Zentraleinheit des Computers, den sein Vater bediente. Mit zehn bestach er das Aufsichtspersonal, um an dem Computer, der mit riesigen Hebeln statt einer Tastatur ausgestattet war, zu programmieren. Mit achtzehn verließ er Ungarn. In Amerika schlug er sich als Privatlehrer durch und saß nächtelang vor einem uralten IBM-Rechner. Mit einunddreißig lehrte er Bill Gates kennen. Für ihn erfand er “Word” und “Excel”, zwei Programme, die in den Tiefen des Codes kleine Gedenktafeln eingebaut haben, die sagen, dass sie “vom Ungarn” (“the Hungarian”) stammen. Und dann, mit über fünfzig, lässt sich der Jules-Verne- und “Star Wars”-Fan von den Russen auf eigene Kosten ins Weltall schießen. Das ist sozusagen der Nerd in Reinkultur.

Der Nerd ist ein Wunder der Technik. Aber jetzt wird er zu einem Wunder unserer Gesellschaft. Man würde ihn in unserer coolen Glamourwelt auf jeder Party übersehen, er würde kaum reden und keinen Wirbel machen. Ein großer Fehler, wie wir womöglich bereits nach der Bundestagswahl bemerken werden.

Nerds sind Menschen, die wissen wollen, wie Dinge funktionieren. Sie benutzen Schraubenzieher und sehr große Lupen. Sie zerlegen Radios und Computer und bauen sie dann wieder zusammen. Allerdings kann der Computer dann Kaffee kochen, und das Radio sucht nach Signalen außerirdischen Lebens. Das erste Nerd-Programm im Internet war eine Webcam, die auf eine Kaffeemaschine in Oxford gerichtet war.

Nerds, heißt es, haben es in der Pubertät etwas schwerer als die Raver, eine Freundin zu finden. Das stachelt sie umso mehr an. Das Ergebnis liegt vor unser allen Augen: Nerds haben die Drehbücher unserer Kommunikation, unserer SMS-Botschaften, mittlerweile unseres Denkens geschrieben. Sie sind die größte Macht der modernen Gesellschaft. Ihre Texte verstehen Außenstehende nicht, obwohl sich alle nach ihnen richten, und sei es, wenn sie Suchbefehle bei Google eingeben. Es waren die Nerds, die als Erste erkannten, dass deshalb die Codes offen sein müssten, überprüfbar und zumindest lesbar für die anderen Nerds. Denn es gibt, wie überall, Abspaltungen, Verrat, Seitenwechsel auch bei den Nerds. Eine besonders gefährliche Gruppe sind die quants, die quantitativen Analysten; sie schrieben die Software für die Finanzprodukte, die die Katastrophe brachten.

Ihrem Wesen nach sind Nerds individualistisch. Aber sie sind Individualisten, die dank der digitalen Technologie die größte Vernetzungsstufe der Menschheitsgeschichte möglich gemacht haben: Vernetzung einzelner Subjekte, die ihren Charakter und ihre Individualität bewahren können, nicht nach ihrem Äußeren beurteilt werden, nicht nach ihrem Geschlecht, nicht nach ihrem Diplomatenkoffer oder ihrer Jute-Tasche. Die Organisation ist so geschlechtsneutral, wie es das Internet ist. Das erklärt, wieso sie politisch geweckt wurden, als die Grundregeln bedroht zu sein schienen. Und das macht sie wichtig und notwendig.

Über die “Piraten” lässt sich Endgültiges noch nicht sagen. Die Partei betrachtet die modernen Technologien als ein Instrument der Emanzipation. Ihr harter Kern ist nerdig, doch Jens Seipenbusch, der Bundesvorsitzende und ein Intellektueller von Format, zeigt bereits den Übergang: die Verwandlung des Nerds in ein politisches Tier. Würden die Nerds jetzt oder bald ein politisches Mandat erringen, wäre das, nachdem sie die Kommunikation der Gesellschaft revolutioniert haben, ihr erster Triumph nicht mehr nur in der Welt der Legosteine, sondern in der Welt von Zement und Mörtel. Vielleicht würden die wahren Nerds im Lauf der Zeit und bei größerem Erfolg immer weniger, so wie sich in den achtziger Jahren die bärtetragenden strickenden Männer bei den Grünen keinen Außenminister Joschka Fischer haben vorstellen können. Aber zu glauben, es handele sich um das Partikularinteresse einer partikularen Öffentlichkeit, wäre ein großer Fehler.

Sie sind, was Sie sagen

Was wir erleben, ist der Übertritt einer anderen Intelligenzform in den Bereich der Politik. Ob durchweg zum Guten, das lässt sich heute noch nicht sagen. Für das Problem des Urheberrechts haben die “Piraten” so wenig eine Antwort wie die anderen: Ihr heutiges Programm, umgesetzt, bedeutete das Ende von Verlagen und Künstlern. Auch über den abgründigen Herrn Tauss sollte man schweigen, solange das Urteil nicht gesprochen ist. Jedenfalls verzichten die “Piraten” glücklicherweise darauf, ihn zu einer Galionsfigur zu machen. Man kann nur hoffen, dass es so bleibt. Wenn die Schwäche eines Gesetzes dadurch bewiesen werden soll, dass ein Bundestagsabgeordneter aus angeblichen Recherchegründen einschlägige Daten empfängt und versendet und das Ganze dann auch noch mit den Worten “Geiles Material” quittiert, dann ist man froh, dass es Gerichte gibt, die der “Recherche” nachrecherchieren.

Doch wer diese Bewegung zu Befürwortern von Kinderpornographie machen wollte, handelte nicht nur moralisch, sondern auch intellektuell höchst unüberlegt. Die Fragen, die die digitale Intelligenz stellt, sind legitim und überfällig. Dazu zählt auch das Netzsperrengesetz. Kein Mensch bestreitet die Notwendigkeit, der Täter habhaft zu werden. Aber es wäre einem wohler, die Bundesregierung lüde die Kritiker ein, um gemeinsam ein Verfahren zu entwickeln, das funktioniert.

Noch hat die Politik, haben viele Menschen kaum eine Ahnung, wie fundamental die Informationstechnologien unser Verhältnis zu uns selbst verändern werden. Immer mehr Menschen bewegen sich in Informationsökologien, die harmlos wirken, aber in deren Untergrund hochkomplexe Berechnungen laufen, die menschliches Verhalten in Mathematik verwandeln. Das Feedback, das diese Systeme auf das “wirkliche” Leben haben, lässt sich erst in Ansätzen erkennen. Aber klar ist, eine Welt, in der vom Arbeitgeber bis zur Krankenversicherung ganze Lebensläufe in Daten zerhackt, neu zusammengesetzt und interpretiert werden, Daten, in denen nicht nur Aussagen über die Gegenwart, sondern auch über die Zukunft, die Leistungskraft, die Kreativität und womöglich auch die politische Einstellung von Menschen gesammelt werden, eine solche Welt verändert ihr Verhältnis zur Freiheit fundamental. Insofern ist das Programm der Nerds, ob sie nun in der Piratenpartei sind oder in anderen Parteien, noch viel zu bescheiden. Sie, die die Systeme kennen, müssen, wie seinerzeit die Renegaten der Atomspaltung, in politische Sprache übersetzen, was technisch möglich ist, was es aus uns macht und wie wir uns dagegen wehren können. In den Vereinigten Staaten sind Verhaltensvoraussagen zur Abwehr von terroristischen Verbrechen bereits ein florierender Markt. Aber eine Software, die solches Verhalten vorhersagen kann, kann das auch womöglich bei anderen Fragen. Das betrifft nicht nur den Staat, der das Internet erst mit der nächsten Politikergeneration wirklich entdecken wird, sondern vor allem auch Wirtschaft und Unternehmen.

2006 veröffentlichten fünf Forscher der Universität Minnesota einen Aufsatz mit dem Titel “Sie sind, was Sie sagen: Bedrohung der Privatsphäre durch öffentliche Äußerungen”. Was sie zeigten – mittlerweile ist die Technik ausgereifter -, war nichts anderes, als dass es Softwareprogramme gibt, die durch Zugriff auf Online-Datenbanken selbst bei Anonymisierung unglaubliche Korrelationen und Profile herstellen können. Da Menschen, über das, was sie mögen, gerne kommunizieren, einen Film, ein Musikstück, ein Foto, und da sie das meistens auf mehreren Plattformen tun, von Facebook über Amazon bis zum eigenen Blog, haben die Forscher gezeigt, dass es schon bei Verwendung von zwei Datenbanken möglich war, sechzig Prozent jener Menschen zu identifizieren, die acht oder mehr Filme erwähnten.

Die Fragen, die aus Verhaltenssteuerung und Voraussage sich ergeben, aber auch die Abhängigkeit des modernen Menschen von unverstandenen Algorithmen sind Kernfragen der gesellschaftlichen Zukunft. Sie werden nicht weggehen und nicht ein für alle Mal gelöst werden können. Aber es ist entscheidend, dass man erkennt, dass die Informationsgesellschaft auf andere Weise, aber mit ähnlicher Dramatik unser Leben revolutioniert, wie es einst die Maschinenparks des industriellen Zeitalters taten.

Großhirn der Gesellschaft

Und dazu brauchen wir Nerds. Sie sind eine politische Kraft, ziehen Nicht-Nerds an sich heran und werden bald auch die anderen Parteien verändern.

Die digitale Intelligenz, für die der Urkern der Piratenpartei nur ein Symbol ist, denkt nicht mehr psychologisch. Hier reden Experten der Informationsverarbeitung. Es sind Leute, die nichts so sehr interessiert wie die Frage, wie Informationen zustande kommen, weil dann erst über ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit geurteilt werden kann. Sie glauben zunächst nicht an höhere Einsichten, sondern an Algorithmen, das heißt an stufenweise aufgebaute Rezepte, die zu einem Ergebnis führen. Alles das, was hochkomplexe mathematische Theorien, sei es der Verhaltensökonomik, sei es der modernen Psychologie, in den letzten Jahren an neuen Erkenntnissen über das Zustandekommen von richtigen oder unrichtigen Entscheidungen herausgefunden haben, ist für sie längst Lebenswirklichkeit. Sie erleben es praktisch im Netz. Jeder bekanntere Blogger kann die Effekte von Gruppenurteilen und Gruppenpolarisierungen auf seiner eigenen Seite in Echtzeit studieren, jeder weiß, dass das Ergebnis einer Debatte über Wertfragen manchmal nur von der mathematischen Einschätzung durch rivva.de oder Google abhängt, jeder erlebt, wie ein felsenfester Konsens binnen Sekunden durch Kommentatoren aufgebrochen werden kann und durch Feedback zu einem neuen Konsens wird – und wer das alles nicht selbst erlebt, kann es bei Wikipedia oder Google-News studieren. Das Netz beendet das Verhältnis von Macht und Gedanken nicht, es verteilt es nur neu. Wer in den letzten Tagen gesehen hat, dass eine sich als PR-Trick herausstellende Information über einen angeblichen Selbstmordanschlag in einer nicht existierenden amerikanischen Stadt über Twitter kommuniziert und am Ende von der dpa in alle Welt verbreitet wird, der weiß, dass “Urteile”, “Meinungen” und psychologische Trends mathematischen Mustern folgen.

Anders aber, als die Cyber-Propheten glauben, ist das Netz auch strukturell keineswegs der Ort der Freiheit, als der es, auch aus Marketinggründen, annonciert wird. Man muss es anders formulieren: Das Netz stellt, gerade wegen seiner kontrollierten Strukturen, viele Freiheitsfragen auf ganz neue Weise. In seinem Maschinenraum arbeitet Software, die gleichsam über unendlich viele Aktenordner, Protokolle, Querverweise, Fußnoten, Eingaben das Verhalten steuert und prägt, ohne dass man es merkt. Die Vorstellung, dass das Netz an sich frei und kostenlos sei, ist eine der stärksten Illusionen der Gegenwart. Es ist einer der meistkontrollierten Organismen, die wir kennen. Moderne Informationstechnologien sind dezentral, aber ihrem Wesen nach bürokratisch.

Deshalb siedeln die “Piraten” an einem Ort, den sie selbst erst vermessen, der aber, nach allem, was wir heute wissen, nicht das Herz, sondern das Großhirn moderner Gesellschaften betrifft. Die jungen Vertreter des alten Parteiensystems haben mit wachem Instinkt festgestellt, dass die “Piraten” zwar einerseits kommerzfeindlich (Kopierschutz), in einigen ihren Strömungen partiell marxistisch (Vergesellschaftung der Inhalte), aber andererseits in ihrem Individualismus auch durchaus neoliberal sind. Eines der ersten Piratenschiffe im England der sechziger Jahre, das gekaperte Musik in den Äther sendete, hieß “The Laissez Faire”.

Die existentielle Frage des geistigen Eigentums beispielsweise wird im Augenblick vor allem technisch beantwortet. Da das Internet kostenlose Kopien von allem und jedem zu Nullkosten erlaubt, folgt in den Augen der Piraten daraus die prinzipielle Freiheit der Inhalte. Es aber ist eine Schlüsselfrage der digitalen Zukunft, dass sich jedermann der unerwünschten Verbreitung und des Diebstahls seines geistigen Eigentums widersetzen kann. Jonas Andersson hat das soeben am Beispiel der schwedischen Website “Pirate Bay” (die mit den “Piraten” nicht in einen Topf geworfen werden kann) gezeigt. Die Gruppe der freien Inhaltelieferanten im Netz, jener Elite, die in eigenen Blogs und Foren Beiträge, Analysen und Kommentare liefert, ist im Vergleich zu denen, die sich ausschließlich fremder Inhalte bedienen und sie auch noch verkaufen, erstaunlich gering. Viele, die im Netz das Urheberrecht in Frage stellen, basteln mittlerweile an ihrem eigenen Geschäftsmodell, und das ist vielleicht die aktuellste Erscheinungsform doppelter Moral: Es ist kein Zufall, dass der kluge Chris Anderson, Chefredakteur von “Wired” und Autor des Buches “Free”, sowie der Cyber-Evangelist Jeff Jarvis ihre Bücher gegen Geld verkaufen und ihre Verlage Urheberrechtsverstöße streng ahnden. Allerdings muss man auch hier die Genese kennen: Kopierschutz bei Software oder Musik, der den Gebrauch fast unmöglich macht, und die potentielle Kriminalisierung der Computer-Kids, die sich ein Spiel kopieren, standen am Anfang der Massenbewegung.

Wir müssen reden

Womöglich sind die “Piraten” längst nicht mehr die Nerds, die insbesondere Grüne wie neulich Julia Seeliger in einer klugen Analyse in ihnen zu erkennen glauben. Auf alle Fälle sind sie der Kern der ersten digital-sozialen Bewegung. “Eure Wurzeln sind nur im Netz”, schrieb Julia Seeliger in ihrem “taz”-Blog, um zu begründen, warum sie die “Piraten” zwar begrüße, aber sie nicht wählen werde.

Das Netz freilich ist jetzt selbst eine Ökologie geworden und wird, im unmittelbar bevorstehenden, durch den Vorboten Twitter schon spürbaren Echtzeit-Internet, über die mobilen Geräte die Mauern zwischen der materiellen und der digitalen Welt noch löchriger machen. Das wird, anders als viele glauben, nicht auf Kosten des Papiers gehen, sondern ihm eine neue Rolle in der Ko-Existenz der Plattformen zuweisen. Dazu braucht die Gesellschaft Gesprächspartner, wenn sie nicht nur den Codes der Software und des nächsten Hypes folgen will. Es wäre schön für alle, wenn die “Piraten”, ganz gleich ob als Partei oder als Bewegung, ein solcher Gesprächspartner sein könnten. Um das herauszufinden, gibt es keine prognostische Software. Aber es gibt die Möglichkeit, ihnen zuzuhören und mit ihnen zu reden.

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